Jerry kurzes Kichern
(Auszug)
Während einer
Reeperbahn-Führung, die er per Mikrofon festhält,
gerät Jerry in
Schwierigkeiten.
Tatort: Die
"Ritze", eine Hamburger Kneipe mit Boxring im Keller
Sprache: St.-Pauli-Poesie
"Halt mal", sagt Jerry, reicht mir seinen Koffer
inclusiv Schnur, während Wiesbaden an den Handtüchern schnuppert. Das Kicken
der Boxbirne ertönt. Mickey Mouse im Fäusterausch, DONGDONGDONG, Jerrys Arme
rudern wie ein Mühlrad, seine Beine sind aus der Achse geschlagen, "weg da,
Junge", sagt einer von hinten, der nicht zu uns gehört. "Lass den Quatsch!
Du gehst nicht auf die Kugel zu, sondern du wartest, bis sie kommt!! So!"
Jerry hört nicht, macht sich am Sandsack zu schaffen, bewegt ihn keinen
Millimeter, "hey, Spiddel", und es mischt sich etwas in die Luft, als wäre
es der Indianer im Kuckucksnest, hört alles, sieht alles, sagt nichts und
hebt Jerry am Kragen hoch, damit der endlich einhält.
Marlene atmet durch. Es ist Zeit, einzugreifen, "the show is over,
meine Herren", sagt sie, macht das Licht aus, und ich habe nicht mal auf die
Lorbeerkränze geguckt und keinen Tritt in den Ring gewagt.
Wir trotten zurück ins Lokal. Erst jetzt merke ich, dass auf drei
Bildschirmen der gleiche Boxkampf läuft. Deswegen sind die Jungs so still
und befriedetes Land.
Am Tisch hinten in der Ecke, den Marlene für die Gruppe kriegt,
sitzt schon der Indianer, streckt Jerry seine Arme entgegen, "Junge, setz
dich zu Rocky", sagt er. In meinen Ohren klingt das eher nach Drohung als
nach Freundschaft und bloß nicht hingucken, fällt mir ein.
Der Indianer wirkt abgewrackt, Lederjacke, gelbes Hemd, die Hände
durchtätowiert, Jerry kippt auf ihn zu wie auf den Punchingball, "bist wohl
Journalist, was", fragt der Indianer und zeigt auf das Kabel. Marlene lauert
aus dem Augenwinkel.
"Weißt du überhaupt, wer ich bin?!", setzt er seine Rede
fort. "Rockmusiker! Komm grade von 'ner Tournee. Japan. Hongkong. Hab Geld
wie Heu! Durchgefickt bin ich auch. Interessiert mich alles nicht mehr, der
Kram! Bloß Boxen. Das hält mich fit!"
"Da musst du doch total glücklich sein!", piept Jerry, kurzes
Kichern.
"Klar doch. Bist du manchmal im Lehmitz, Kleiner?!"
"Ja. Da arbeitet mein Freund!"
"Hab' da Lokalverbot gekriegt! Hab' in 'ne Ecke gepinkelt."
"Hättest doch auch aufs Klo gehen können", sagt Jerry, immer ein
Ohr an dem Dialog, den sein Mikro einfängt,
"ging nicht", sagt der Indianer und fixiert Jerrys Jackett.
"Los. Gib mir mal deine Jacke!"
Jerry klemmt das Mikro vom Revers auf den Pullover, der Indianer erhebt
sich, seine Hose ist fast so grün wie die von Jerry, nur am Oberschenkel
zerschlissen, er zieht sich die Jacke über, passt zu seiner Hose, sitzt
stramm und die Ärmel legen Einschnitte am Handgelenk frei, stolziert am
Tisch lang wie vorm Spiegel: "hab' mal einen umgebracht, wie Bubi seine
Frau, ließ sich leider nicht rückgängig machen, und als ich rausbin aus'm
Knast, hat mir ein Freund 'ne Gitarre gegeben. Dann ging alles ganz schnell,
dem Bassisten von 'ner Band vorgespielt, der hat mich engagiert, nicht
ständig, aber so ab und zu - und das", er deutet auf seine eingebeulte Nase
und die Streifen am Arm, "hab' ich mir in New York geholt, bin mit meiner
Tochter Schlitten gefahren, vor ein paar Tagen, in der Nähe von dem
Christo-Geflatter haben wir 'ne Landung gemacht …", plötzlich dreht sich der
Indianer zu Jerry hin und sagt:
"Was willst du haben für die Jacke?"
Jerry stockt. Kichert. Läuft rot an.
"Hampel nicht rum!", sagt der Indianer.
"Zehntausend." sagt Jerry. Keine Nebengeräusche und steht stramm.
Es wird still an unseren Tisch. Eine Glocke aus Stille über dem
Ring. Als würde ausgezählt.
Der Indianer streicht am Kragen der Jacke entlang, guckt über die
Knöpfe, das Grün, "gut", sagt er dann, "sollst du haben.
Aber vorher gehst du auf die Knie."
"Das tu ich nicht", sagt Jerry, immer noch aufrecht, zwei
Zentimeter gewachsen und ohne Kichern.
"Übernimm dich nicht, Fliegengewicht!"
"Ich geh nicht auf die Knie", sagt Jerry. "Vor keinem Menschen der
Welt und für kein Geld!"
Der Indianer pumpt sich voll hinter der Tischkante, seine Füße
tänzeln, Jerry reckt seine Brust, greift zu seiner Brille - der Indianer
nutzt diese Sekunde unsicherer Deckung, landet seine Faust auf das Mikro,
das Herz, Jerry taumelt, verschwindet unter dem Tisch, ich weiche zurück,
die anderen werden bleich, Luft holen, Jerry, schwitzt Marlene aus allen
Poren, Jerry tut es, hebt sich in Zeitlupe, der Indianer bereitet den Schlag
auf den Kopf vor, Nasenbein ins Hirn, Augen ins Dickicht, Blut, wer will
hier kein Blut sehen, da naht der Ringrichter mit Geschirrtuch, zwei
geschulte Barkeeper in seinem Rücken.
"Es reicht", sagt er zum Indianer, "Schraub den Pegel runter! Meine
Gäste fühlen sich gestört."
Der Indianer schrumpft zusammen, etwas ist bei ihm angekommen.
"Gut", brüllt er, "gut", haut mit der flachen Hand auf den Tisch, dass der
Whisky in den Gläsern kreist, "du kriegst deinen Fummel! Dafür machst du
deinem sauberen Freund klar, dass ich wieder ins Lehmitz will. Ab sofort!"
Stimmungen schwanken am Rand der Seile, laufen hin und her zwischen
Schmerz und Jubel, es ist unberechenbar, dieses gewaltige Experiment der
Nähe ……
Der Text ist veröffentlicht
in
"St. Pauli - Streifzüge auf dem Kiez",
Edition Nautilus, Hamburg 2006
und bei HörbucHHamburg 2007,
gelesen von Nina Petri
Hörprobe