renate langgemach

Schnee hinter den Augen

In meinem dritten Roman zeichne ich das Portrait eines im Krieg erblindeten Vaters, dessen zwiespältiges Leben aufgerollt wird: Gespannt begleitet man seine Tochter Lilly, die nach und nach von seinem Doppelleben erfährt und in der Auseinandersetzung mit seiner Geliebten ihre eigene Geschichte revidieren muss. Wie ich finde, ist es ein einfühlsamer Roman über Blindheit, Schuld und die blinden Flecken der Erinnerung, der spürbar macht, wie tief der Krieg in die nachfolgende Generation einwirkt.

Die folgende Leseprobe beginnt auf der Romanseite 111.

Natürlich ging ich wieder zu Agnes. Die Dinge mit ihr waren ein Wechselbad zwischen Abwehr, keimender Sympathie, ungestillter Sehnsucht und Neugier und mussten zu Ende gebracht werden.
Statt 'guten Tag' sagte ich, wie sehr mich die Verfolgerei meiner Familie durch ihre Person empört hatte.
Ja, antwortete sie. Sie haben Recht. Ich beobachtete jeden von Ihnen unbehelligt. Paul sah ich fast täglich. Stets war jemand an seiner Seite. Nur auf diesen Bahnfahrten war er allein.

Was sich daraus ergab, liebe Lilly … sie wies mir den Sessel, ich setzte mich an ihre Rollstuhlseite, den vergilbten Vater, dem längst das Herz in den Grabstein geritzt war, auf den Fotos in meinem Rücken. Ja, ich wollte wissen, was sie mit ihm tat, während ich ihn brave Kindersommer und brave Kinderwinter lang zu seinen Orten schleppte, ihm Weidenzweige über das Gesicht wehen ließ, während er mir Sternbilder erklärte - immer erklärte, dass ich alles aufbewahren sollte in meinen Augenhöfen und Augenstuben, Malvenblüten am Zaun, Wind, dem sich die Buchen ergeben müssen, Regen auf den Autodächern.
A. stützte ihren Kopf auf eine Hand, schien aufflatternde Gedanken, Nischen, in die ungewohntes Licht fiel, zu ordnen.
Eines Tages, begann sie, stiegen wir gemeinsam aus dem Zug. Ich führte ihn vom Bahnhof durch den Park zu meiner Wohnung. Es war das längste Stück Weg, das er je an meiner Seite ging.
Ich führte ihn in das Haus, er folgte mir die Treppen hinauf, drei Etagen mit ungewohnter Stufenhöhe. Ich öffnete meine Wohnung. Du kochst gern, sagte er, als er eintrat. Ja, antwortete ich. Da ist Feuchtes in den Wänden, sagte er dann, und es riecht nach Rauch.

Unsere erste Zusammenkunft arrangierten wir um die erste nichtstattfindende Konferenz. Clara musste zu einem glaubwürdigen Termin in Kenntnis gesetzt werden, wann Paul vom Bahnhof abzuholen sei. Also war unsere Zeit begrenzt. Wir ließen die 'Besichtigung' der Wohnung und Höflichkeiten beiseite, es gab nichts als den Weg in meine Kammer.
Er betrat sie. Eine Stille-Kapsel dehnte sich in den Raum. Ein bewegungsloses Tasten im Vorempfinden dessen, was hier geschehen könnte. Er sagte, er spüre Geborgenes, Dumpfes. Er breitete seine Arme aus. Prüfte die Raumdimensionen. Drehte sich mit ausgebreiteten Armen auf dem Polsterplatz, ließ sich an der Wand abrutschen, fiel in die Kissen, lauschte.
Er sagte, mein Raum sei eine Zeitzelle. Alles, was er draußen zu sondieren hätte, fiele hier von ihm ab. Lärm, vorbeischnellende Menschen, vorbeischnellende Waggons, die er zu zählen hatte, Wärmezonen, Windzonen, Häuser, Lautsprecher, Gerüche.
Er streckte seine Hände vor, als wollte er Schwingung erfassen. Ich stand an der Wand gegenüber und nahm auf, was er tat. Jeden Schritt, jede Geste überließ ich ihm. Ich wollte ihn zu nichts verführen - und hatte alles zu seiner Verführung bereit gestellt.

SCHNEE HINTER DEN AUGEN, ISBN 978-3-943446-30-2
Edition Contra-Bass http://contra-bass.de

Der Roman ist auch als Hörbuch erhältlich, gelesen von der Autorin
4 Audio-CDs ISBN 978-3-943446-32-6, Edition Contra-Bass

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