renate langgemach

Geh du nach Süden

heißt mein Roman, der in der Edition Contra-Bass erschienen ist. Ich erzähle die Geschichte Johan Jakobs, der mit seinem Beruf und dem Leben mit der Mutter bricht, um seinen eigenen Weg zu finden. Weit genug muss der Abstand zum Alten sein, damit das Neue gelingt:
Er macht sich auf nach Paris.
Die fremde Stadt fordert viel von dem bisher glücklosen Mann, doch Schritt für Schritt erobert er die Metropole und ein Stück von sich selbst. Dass er dabei sogar der Liebe begegnet, hätte er sich kaum träumen lassen.

Johan Jakob war nicht nach Paris gekommen, um in das Alter einer Stadt zu tauchen, in Hochmut und Leid dahingleitender Kräfte, sich ihren Namen umzulegen wie einen magischen Mantel, von den Krumen berühmter Bäcker zu picken und Kleider zu tragen wie Kuckucksflügel - er war gekommen, um fremd zu sein.
Hier war er fremd. So fremd wie er sich fühlte. Wortlos verbündet mit allen Fremden dieser Stadt. Und er trat an, was seine Mutter 'Internierung' nannte. Denn für sie galt alles, was sich ihrer Fürsorge entzog, als unsinnige Bewegung, die dem feindlichen Lager entgegen spielte. Dass er eine eigene Vorstellung zu dieser Idee entwickelt hatte, passte nicht in ihre Welt. Mit Händen, die so viel Unverständnis trugen wie sie nur konnten, lief sie am Bahnhof hinter ihm her, als er Abschied nahm, wandte sich ab, während die Waggontüren zufielen, nahm Haltung an, zog ihre Handschuhe über das Gelenk, das tat sie immer in solchen Momenten, und verstaute seinen Aufbruch zu den anderen Lebenskränkungen unter ihrem Mantel. Johan Jakob griff nach seinem Koffer, las auf der Fahrkarte, was er längst auswendig wusste, Überherrn, Saarbrücken, Metz, Paris, suchte seinen Platz, dabei kam es ihm vor, als trüge er sechsunddreißig verlorene Jahre im Gepäck.

Bisher war er nur zu Schulausflügen ohne die Mutter gereist. Da hatte sie ihm geduldig nachgewunken, wenn sie ihn zum Zug brachte und gleichzeitig zu begreifen begann, dass es etwas außer ihr gab in seinem Leben.
Bei jeder Rückkehr suchte er den Bahnsteig nach ihr ab. Sie kam ihm nicht entgegen. Im wahrsten Sinne des Wortes nicht und nicht im übertragenen. Sie stand in der Halle. Sie umarmte ihn nicht, gab ihm nicht die Hand, bevorzugte Küsse rechts und links neben der Wange, diese geste social, die man ein paar Kilometer entfernt vom Saarländischen pflegte, die vornehm aussah, Nähe vorgab und fremd blieb. Dabei hielt sie sich an Johan Jakobs Oberarmen fest.
Dieser Griff hatte eine Spur hinterlassen. Genauso wie sich ihm Hunderte von Kinderhänden eingeprägt hatten, als es noch üblich war, sie vor Schulbeginn und am Ende des Tages zu drücken, Finger leicht wie Taschentücher, einfache, warme, die von einem geraden Körper erzählten, von Verwegenheit und Schalk, andere, die zupackten, als wären sie gewohnt Holz zu hacken, und welche, die sich ihm aus fallenden Schultern entgegen streckten. Das hatte er behalten. Nichts davon gaben fliehende Küsse zu erkennen. Und nichts davon wollte seine Mutter zu erkennen geben.
Johan Jakob schob sich tief in seinen Sitz. Bis Metz witterte er Unheil bei jeder plötzlichen Bewegung im Zug, als könnte eine höhere Macht seine Fahrt vorzeitig beenden. Dann erst atmete er auf. Kein Schüler, keine Schülerin, keiner von den Mitstreitern und Mitduldern aus Überherrn würde jetzt noch in der Tür zum Abteil erscheinen. Und er, der Entlassene, der Entlaufene, den manche Verräter nannten, war unterwegs.
Um diese Zeit hätte er zu Hause auf dem Sofa die Decke über die Ohren gezogen. Gegen das Rufen der Mutter, das erbarmungsloser sein konnte als die Schulglocke, gegen den Schreibtisch, Heftstapel, immer schön der Reihe nach und in der rechten Ordnung, gegen das Läuten des Telefons, Namenslisten, Klassenbücher, gegen das Versagen, Verzweifeln, Veröden.
Hier zählte er im Rhythmus von Rädern und Schienen die Fahrzeit zusammen, die ihm noch blieb. Es war vielleicht eine Stunde. Er drückte seine Knie nebeneinander, breitete eine Serviette darauf, öffnete seine Blechschachtel mit Reiseproviant, Apfelstücke lagen neben Käsebrot und hart gekochtem Ei. Auf einem Papier, das zwischen dem Brot klebte, stand, 'melde dich umgehend!'.
Mutter konnte Brot mit Zetteln versalzen.
Er klappte die Dose wieder zu, erhob sich, seine Serviette fiel auf den Boden - warum musste das Schicksal stets darauf hinweisen, wie linkisch er war - trat auf den Gang, kaufte im Speisewagen etwas zu trinken, reichte wie in Trance seine Brotdose über den Tresen, der Kellner nahm sie, wog sie, grinste und steckte sie in den Abfallsack.

Eigentlich sollte ich in Fahrtrichtung sitzen, dachte Johan Jakob, als er sich wieder auf seinen Platz klemmte. Dann würden die Heimatfäden schneller reißen, die fremde Stadt würde v o r mir auftauchen, sie würde mir entgegen kommen und nicht halb verbraucht aus meiner Sicht entschwinden.
Doch ihm gegenüber war alles besetzt. So verlor sich sein Blick in den Tropfen an der Scheibe und schwamm auf die Stadt zu wie auf eine unbekannte Geliebte.

Der Roman GEH DU NACH SÜDEN
ISBN 978-3-943446-08-01
ist in jeder Buchhandlung und beim Verlag zu bestellen.

Edition Contra-Bass
www.contra-bass.de
contra-bass@orange.fr


 

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